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fee.jpg (27038 Byte)Der Gedankensammler

Herr Grantig kommt jeden Morgen um halb sieben an dem Haus vorbei, in dem ich wohne. Schon von weitem höre ich seine schweren Schritte übers Pflaster schleifen. Um diese Zeit ist es in meiner Gegend nämlich sehr ruhig. Vor acht zeigt sich hier kaum Bewegung.

Dann und wann huscht eine Katze langgestreckt über die Straße und verschwindet lautlos in einem der stillen Vorgärten. Oder der Wind trägt das ferne Raunen der Autobahn herüber. Sonst nichts. Noch liegt Schlaf wie eine warme Decke über den Dächern.

Ich laufe zum Fenster, öffne es, beuge mich weit vor und sehe auf den Gehsteig hinab. Und bei der ersten oder zweiten Laterne entdecke ich gleich die gebückte Gestalt, die sich langsam nähert.

Wenn er direkt unter mir ist, hebt er den Kopf, räuspert sich und ruft leise: "Guten Morgen!"

"Guten Morgen, Herr Grantig!" rufe ich leise zurück.

Vielleicht sagt er noch: "Ein wunderschöner Tag, nicht wahr?" Oder: "Schon wieder so früh am Schreibtisch?" Dann nickt er mir zu, lächelt und schlurft weiter. Ich schaue ihm jedesmal nach, bis er um die Ecke biegt. Morgen für Morgen geht das so, gleichgültig, ob Sommer ist oder Winter. Auf Herrn Grantig kann ich mich verlassen. Er verspätet sich nie. Ich könnte mein Uhr nach ihm stellen, so pünktlich taucht er auf.

Der einzige Mantel, den er besitzt, flattert ihm schäbig und fadenscheinig um die Knie. Seine Augen liegen im Schatten einer verwaschenen Schirmmütze, die er sich tief ins Gesicht gezogen hat. Auf dem Rücken trägt er einen ausgebeulten Tornister mit speckigen Lederriemen. Und er bewegt sich wie jemand, der keine Eile kennt.

Er ist ein alter Mann, und alte Leute sehen oft so aus, als hätten sie die Taschen voller Zeit. Bedächtig bauen sie die Stunden um sich auf, wie andre sich mit Bildern umgeben, mit erlesenem Porzellan oder kostbaren Möbelstücken.

Wenn Herr Grantig dann wieder an meinem Haus vorbeikommt, ist es ungefähr zwei Uhr. Manchmal ein wenig früher, manchmal auch später. Das hängt davon ab, wie er mit seiner Arbeit fertig geworden ist. Herr Grantig sammelt Gedanken.

Schöne Gedanken und hässliche. Fröhliche Gedanken und traurige. Kluge Gedanken und dumme. Laute Gedanken und stille. Lange Gedanken und kurze. Eigentlich sind ihm alle Gedanken wichtig. Obwohl er natürlich seine Lieblingsgedanken hat. Doch das lässt er sich nicht anmerken, damit er die andern nicht verletzt. Gedanken sind da sehr empfindlich.

Er streift durch die verwinkelten Straßen und Gassen der Stadt und lauscht. Herr Grantig kann Gedanken nämlich hören. Sogar durch dicke Hauswände hindurch oder um mehrere Ecken herum. Kein noch so winziger Gedanke entgeht ihm.

Sobald er einen gehört hat, öffnet er den Tornister, pfeift einmal ganz leise und kurz durch die Zähne, und schon kommt der Gedanke angeflogen, kriecht in den Tornister hinein und legt sich zu denen, die bereits drinnen sind.

Die einen schweben sacht heran, andre stoßen blitzschnell auf Herrn Grantig zu und werfen ihn beinahe um. Manche finden die Öffnung des Tornisters sofort, manche brauchen dazu eine Weile. Schließlich gibt es welche, die sind so zapplig und ungeschickt, dass sie beim Hineinklettern abrutschen und auf den Gehsteig fallen.

Jeder Gedanke verhält sich anders. Sie sind unberechenbar. Und Herr Grantig, der doch in langen Jahren schon allerhand mit ihnen erlebt hat, bleibt mitunter nachdenklich stehen, schüttelt den Kopf und wundert sich zum wohl hundertsten Mal darüber, dass sie so unterschiedlich sein können.

Wenn er alle Gedanken aufgelesen hat, die in der Stadt zu finden sind, verschnürt er den Tornister sorgfältig und schlurft, unter der Last noch gebückter als sonst, wieder nach Hause. Dass Gedanken nämlich leicht wie Federn oder Schneeflocken sein sollen, ist ein Gerücht, nichts weiter. Manche wiegen sogar mehr als ein halbes Pfund.

Bald ist er unter meinem Fenster angelangt und zwinkert mir zu. Ich winke ihm nach und gehe dann an meine unterbrochene Arbeit zurück.

Herr Grantig wohnt in einem Häuschen draußen hinter den Schrebergärten. Es hat zwei kleine Zimmer und einen ebenso kleinen Anbau, in dem das Klo und die Badewanne untergebracht sind. Der erste Raum ist sein Wohnkochschlafzimmer, der zweite das Arbeitszimmer. Damit kommt Herr Grantig aus. Er braucht nicht viel Platz.

Weil ihn das Laufen hungrig gemacht hat und müde, isst er zunächst eine Kleinigkeit und ruht sich danach ein bisschen aus. Dann nimmt er den Tornister und geht nach nebenan ins Arbeitszimmer. Dort öffnet er ihn und schüttet die Gedanken auf ein großes, weiches Tuch, das er vorher auf dem Boden ausgebreitet hat.

Er schiebt den leeren Tornister beiseite, hockt sich hin, entwirrt und sortiert die ineinander verflochtenen Gedanken und legt sie alphabetisch geordnet in hohen Regalen ab.

Unter a kommen zum Beispiel die albernen, die aufregenden, die arglosen, die angelesenen, die abgestumpften oder die altklugen Gedanken.

Unter b die bahnbrechenden, die bissigen, die braven oder die betrübten Gedanken.

Unter c die christlichen, die charakterfesten oder die chaotischen Gedanken.

Das Einräumen erfordert Herrn Grantigs ganze Aufmerksamkeit. Gedanken sind nämlich so gut wie durchsichtig und leicht zu verwechseln. Manchmal versteckt sich ein Gedanke auch irgendwo, um Herrn Grantig eins auszuwischen. Und der alte Mann rutscht dann auf den Knien im Zimmer herum und sucht all die dunklen Ecken und Winkel nach ihm ab. Doch das kommt selten vor und nur bei den übermütigen, den ausgelassenen, den schelmischen und den gemeinen Gedanken. Und weil Herr Grantig ein friedfertiger Mensch ist, hat er den Zwischenfall spätestens dann wieder vergessen, wenn er einen besonders schönen Gedanken in den Händen hält.

Nachdem er mit dem Sortieren fertig ist, lässt er die Gedanken eine Weile in den Regalen ruhen, damit sie saftig werden wie ausgereiftes Obst. Das dauert ungefähr zwei Stunden.

Nun holt er sie nacheinander hervor, stapelt sie behutsam in einen dickbauchigen Weidenkorb und geht mit ihnen hinaus.

Draußen liegen große, sauber geharkte Beete. Herr Grantig zieht einen Gedanken nach dem andern aus dem Korb und setzt sie in die Erde. Im Winter benutzt er ein heizbares Gewächshaus aus bräunlichem Glas, das den hinteren Teil des Gartens bedeckt.

Erst wenn Herr Grantig das letzte Krümchen Erde von den Händen gerieben hat, ist seine Arbeit für den Tag getan. Er rückt sich einen Sessel zurecht, legt die Beine hoch, steckt die Nase noch für ein Stündchen in die Zeitung, trinkt ein, zwei Tassen Tee und geht bald darauf schlafen.

Am nächsten Morgen rasselt in aller Frühe der Wecker. Herr Grantig schlüpft in den Bademantel und schlurft eilig zum Fenster. Und draußen auf den taugetränkten Beeten glitzern im rötlichen Tagesschimmer die herrlichsten, ungewöhnlichsten Blumen, die man sich nur vorstellen kann. Blassblau sind sie und ziegelrot, goldgelb und eierschalenweiß, manche sind gestreift, manche getupft, die einen haben zarte, schmale Blütenblätter, andre dicke, fleischige Knospen, einige Stengel sind glatt und zerbrechlich, einige rauh und stark wie die Stämme junger Birken. Und alle verströmen einen wundervoll süßen Duft.

Herr Grantig beeilt sich mit Waschen, Anziehen und Frühstücken. Er weiß, dass ihm nur wenig Zeit bleibt, die Gedankenblumen anzusehen. Noch ganz schläfrig trottet er hinaus, schiebt einen Liegestuhl vor die Beete und hüllt sich in eine Wolldecke.

Unmerklich verliert sich das Dämmerlicht. Es wird hell. Nun geschieht es. Ganz allmählich und sacht lösen sich die Blumen auf. Sie zerfallen und zerfasern sich in unzählige, winzigkleine Bestandteile, die aussehen wie Staubflöckchen, die in der Sonne tanzen. Und mit dem ersten Windstoß werden sie in alle Himmelsrichtungen verweht.

Das macht eine stille Melodie von solcher Zartheit, dass Herr Grantig sie kaum hören kann. Er hält die Hand hinters Ohr und beugt sich nach vorn. Über sein aufmerksames Gesicht läuft ein Zittern.

Dann ist alles vorbei. Er räumt den Frühstückstisch ab, streift den Mantel über, zieht sich die Schirmmütze tief in die Stirn, schnallt den Tornister auf dem Rücken fest und macht sich auf den Weg. Und um halb sieben biegt er wieder um die Ecke und nähert sich meinem Haus.

Ich habe ihn schon so oft gebeten, mich doch nur ein einziges Mal mitzunehmen und mich zuschauen zu lassen. Vergeblich. Er sagt, die Gedanken seien sehr scheu. Sobald sie einen Fremden neben ihm entdeckten, hielten sie sich versteckt. Deshalb müsse er mit dem Einsammeln immer warten, bis kein Mensch in der Nähe sei und vorsichtshalber täglich die Route ändern. Das sei auch der Grund dafür, dass er einen hohen Zaun um seinen Garten gezogen habe.

Doch an manchen Abenden erzählt er mir von der Arbeit. Woher sollte ich sonst so gut darüber Bescheid wissen? Er sitzt mir in meinem Zimmer gegenüber und dreht die Teetasse in den zerfurchten Händen. Während schwarz die Dunkelheit vor den Fenstern steht, schlägt Herr Grantig die Beine übereinander und beginnt mit leiser Stimme zu reden.

"Der Wind", sagt er, "trägt die winzigen Teilchen der Gedankenblumen mit sich fort. Sie fliegen hoch und höher und schweben bald über den Dächern der Stadt, die noch von Schlaf bedeckt ist. Dann sinken sie nieder, dringen durch jedes Fenster, jeden Spalt und jede Ritze eines jeden Hauses, setzen sich vorsichtig auf die Stirnen der träumenden Menschen und wachsen dort zu neuen Gedanken heran.

Gäbe es die Gedankensammler nicht, würden sich die Gedanken unentwegt wiederholen und irgendwann womöglich ganz aufhören."

Herr Grantig nimmt einen Schluck Tee, wischt sich mit dem Jackenärmel den Mund und sieht mich sanft an. "In jeder Stadt und in jedem Dorf", fährt er fort, "gibt es einen Gedankensammler wie mich. In großen Städten sogar zwei oder drei. Nur weiß kaum jemand von ihnen, weil sie so unauffällig wie möglich arbeiten. Die meisten haben seltsame Namen. Das ist eine Tarnung. Denn wer käme schon auf die Idee, ein Mann, der etwa Grantig heißt, könne ein Gedankensammler sein?"

Dabei lacht Herr Grantig still in sich hinein, und ich bin sehr stolz darauf, daß er ausgerechnet mich ins Vertrauen gezogen hat.

Wenn er dann spät in der Nacht wieder aus meinem Zimmer geschlurft ist, meine ich manchmal, ein klein wenig vom Duft der Gedankenblumen in der Nase zu haben. Und ganz entspannt und gedankenleer schlafe ich ein. schlafe ich ein.

 
 Der Gedankensammler reist um die Welt
 

von Deutschland

nach China

         
  von Korea

nach Estland

         
 

von Italien 

nach Frankreich

         
  von Spanien

 nach Lateinamerika

 

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