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fee.jpg (27038 Byte)Der Schilderputzer

Ich kenne einen Mann, der war Schilderputzer von Beruf. Morgens um sieben machte er sich auf den Weg zur Arbeit. Nach einer halben Stunde ungefähr kam er in der Schilderputzzentrale am Weihrauchplatz an. Er begrüßte den Pförtner hinter der Glasscheibe und ging in den Umkleideraum.

Dort zog seinen blauen Arbeitsanzug und die blauen Gummistiefel an, schlenderte zur Lagerhalle hinüber und nahm eine blaue Leiter, einen blauen Eimer, eine blaue Bürste und ein blaues Ledertuch in Empfang.

Während er alles zusammenpackte, plauderte er mit den Kollegen, die ebenfalls ihre Geräte ordneten. Dann holten sie in der Nebenhalle ihre blauen Fahrräder ab und fuhren durch das Tor hinaus.

Es war ein prächtiger Anblick, wenn sämtliche Schilderputzer der Stadt gleichzeitig losradelten. Als schwärmten mächtige blaue Vögel aus ihrem Nest.

Der Schilderputzer, von dem ich hier erzähle, hatte seit Jahren dieselbe Route: Bachstraße, Beethovenallee, Haydnstraße, Mozartgasse, Gluckstraße, Wagnerstraße, Händelweg, Chopinplatz, Goethestraße, Schillerstraße, Stormgasse, Thomas-Mann-Ring, Grillparzerstraße, Brechtgasse, Kästnerstraße und Ingeborg-Bachmann-Allee. Zum Schluss noch der Wilhelm-Busch-Platz, dann war er mit der Arbeit fertig.

Mit dem Schilderputzen ist das so eine Sache. Kaum ist ein Schild sauber, da wird es auch schon wieder schmutzig. Gute Schilderputzer lassen sich davon nicht entmutigen. Sie geben den Kampf gegen den Schmutz nicht auf.

Der Schilderputzer, von dem ich erzähle, war ein außergewöhnlich guter Schilderputzer.
Die Schilder in seinen Straßen waren nicht nur sauber, sie sahen aus wie neu.

Seine Kollegen erkannten neidlos an, dass er der beste Schilderputzer der Stadt war. Und der Oberschilderputzer und der Schilderputzmeister klopften ihm dann und wann auf die Schulter und sagten: "Weiter so!"

Der Schilderputzer war ein glücklicher Mann. Er liebte seinen Beruf, liebte seine Straßen und seine Schilder. Hätte ihn jemand gefragt, was er an seinem Leben gern ändern würde, er hätte geantwortet: "Nichts." Und so wäre es wohl geblieben, wäre nicht eines Tages eine Mutter mit ihrem Kind an der blauen Leiter stehengeblieben.

"Guck mal! Gluckstraße!" rief das Kind und zeigte auf das Straßenschild, an dem der Schilderputzer eben arbeitete. "Der Mann da hat die Punkte weggewischt!"

"Welche Punkte?" fragte die Mutter und sah erstaunt auf.

"Die über dem u", sagte das Kind. "Es muß doch Glückstraße heißen."

"Aber nein", sagte die Mutter und lachte. "Das ist ganz richtig. Gluck war ein Komponist, einer, der Melodien erfunden hat, und die Straße trägt seinen Namen."

Ein Bus und zwei Lastwagen ratterten vorüber und begruben die Stimme der Frau unter sich, und als es wieder still wurde, waren Mutter und Kind längst weitergegangen.

Der Schilderputzer starrte verblüfft auf das Straßenschild. Mit einemmal war ihm klargeworden, dass er über diesen Gluck ebensowenig wußte wie das Kind. Da hatte er all die berühmten Namen ständig vor der Nase und konnte doch nichts mit ihnen anfangen.

Das muß sich ändern, dachte er.

Er kletterte von der Leiter, griff in die Hosentasche, fingerte ein Markstück heraus und warf es in die Luft. Bei Adler würde er mit den Musikern anfangen, bei Zahl mit den Dichtern.

Das Markstück landete auf dem Bürgersteig, tanzte klingend und funkelnd umher, rollte aus und blieb liegen.

Adler.

Der Schilderputzer bückte sich, hob es auf, drehte es  unschlüssig in der Hand und überlegte, was zu tun war. Zum erstenmal konnte er das Ende des Arbeitstages kaum erwarten.

Um fünf schwang er sich aufs Fahrrad, raste mit wehenden Haaren zur Schilderputzzentrale, zog sich hastig um und rannte nach Hause.

Die Tür war kaum hinter ihm zugefallen, da suchte er schon nach Papier und Stift und machte eine Liste. BACH-BEETHOVEN-CHOPIN-GLUCK-HÄNDEL-HAYDN-MOZART-WAGNER. Er las sie noch einmal durch und befestigte sie mit Reißzwecken an der Wand.

Als nächstes studierte er sorgfältig die Zeitung, und zwar den Teil, in dem Konzerte und Opern angekündigt werden. Er schrieb einige Veranstaltungen heraus und stellte einen Terminplan auf. Den steckte er in die Brieftasche.

Am Tag darauf besorgte er Eintrittskarten und holte seinen guten Anzug aus dem Schrank.

Nun weiß ich, was mir gefehlt hat, ging es dem Schilderputzer oft durch den Kopf, wenn er im Konzertsaal oder in der Oper saß und die gespannte Stille ringsum spürte. Die ersten Klänge stiegen empor. Zaghaft wuchsen sie heran, rundeten sich, stoben auseinander, trafen wieder zusammen, zerflossen, zitterten, schrumpften, bäumten sich ein letztes Mal auf und erstarben.

Fröstelnd erwachte der Schilderputzer aus seiner Betäubung. Papier raschelte, Füße scharrten, Türen wurden geöffnet, und die Leute drängten schwatzend hinaus. Der Schilderputzer sah sich um und lächelte.

Zu Weihnachten schenkte er sich einen Plattenspieler. Er packte ihn aus, stellte ihn unter den Tannenbaum und legte feierlich die erste Platte auf.

Ganze Nächte verbrachte er jetzt im Wohnzimmer und hörte Musik. Und allmählich hatte er das Gefühl, als seien die Musiker, die ja schon lange tot waren, wieder lebendig und seine besten Freunde. Ihre Musik zu hören und mit Gedanken zu beantworten, war wie ein Gespräch.

Bei der Arbeit pfiff er die Melodien, die er behalten hatte, leise vor sich hin. Mozarts KLEINE NACHTMUSIK. Beethovens MONDSCHEINSONATE. Sogar Opern pfiff er auswendig. Das war nicht einfach, weil er immer nur eine Stimme pfeifen konnte und sich die anderen Stimmen dabei vorstellen mußte.

Als ihm die Musiker ganz vertraut waren, löste er die Namenliste von der Wand, drehte sie um und entwarf auf der Rückseite eine neue. BACHMANN-BRECHT-BUSCH-GOETHE-GRILLPARZER-KÄSTNER-MANN-SCHILLER-STORM. Er befestigte sie an ihrem alten Platz. Dann ging er in die Stadtbücherei und lieh sich Bücher aus, die diese Dichter geschrieben hatten.

Nach ein paar Wochen kannten ihn die Angestellten und nickten ihm freundlich zu, wenn er hereinkam. Er war einer ihrer besten Kunden.

Der Schilderputzer stieß auf Worte, wie er sie nie zuvor gehört hatte. Manche verstand er, andere nicht. Dann las er die schwierige Stelle so oft, bis er wusste, was sie ihm sagen wollte.

Abend für Abend tauchte er in die Geschichten der Bücher ein. Und die Geheimnisse, die er dort entdeckte, hatten große Ähnlichkeit mit den Geheimnissen, die er in der Musik gefunden hatte. Worte sind geschriebene Musik, dachte er, oder vielleicht ist Musik einfach der Klang ungesagter Worte.

"Schade", sagte er manchmal zu seinen Kollegen, "jammerschade, dass ich nicht früher mit dem Lesen angefangen habe. Was ist mir nicht alles entgangen."

Die Worte machten ihn still und erregten ihn. Sie machten ihn nachdenklich und übermütig. Fröhlich und traurig. Die Dichter spielten mit ihnen, wie Musiker mit Tönen spielen, Jongleure mit Bällen und Ringen oder Zauberkünstler mit Tüchern und Karten.

Es erging dem Schilderputzer mit den Dichtern wie mit den Musikern. Sie wurden seine Freunde.

Und als er all ihre Werke kannte, da sagte er sich Stellen, die ihm besonders gut gefallen hatten, bei der Arbeit vor. Goethes ERLKÖNIG. Wer reitet so spät durch Nacht und Wind. Brechts MACKIE-MESSER-LIED. Und der Haifisch, der hat Zähne, und die trägt er im Gesicht. Stellen aus Storms SCHIMMELREITER oder aus MAX UND MORITZ von Wilhelm Busch.

Und so putzte er und pfiff Melodien und putzte und sagte Gedichte auf und putzte und sang Lieder und putzte und erzählte Geschichten nach.

Passanten hörten ihn, blieben stehen, starrten an der blauen Leiter hoch und wunderten sich. Ein solcher Schilderputzer war ihnen noch nie begegnet. Die meisten Erwachsenen glauben nämlich, dass es Leute gibt, die zum Beispiel Schilder reinigen, und solche, die sich mit Gedichten oder Musik beschäftigen. Die einen nennen sie Arbeiter, die anderen Gebildete. Dass jemand beides zugleich tun konnte, warf ihre ganze Denkweise über den Haufen. Und da lag sie im Rinnstein, die Denkweise, und zerfiel wie ein verkohlter Fetzen Papier.

Der Schilderputzer auf seiner Leiter merkte überhaupt nicht, welches Aufsehen er erregte. Er rubbelte und rieb und hauchte und polierte und gab erst Ruhe, wenn ein Schild blitzblank war und in der Sonne glänzte.

Er lieh sich nun in der Stadtbücherei Bücher aus, die Gelehrte über seine Musiker und Dichter geschrieben hatten. Die waren nur schwer zu begreifen, und manchmal glaubte der Schilderputzer, er werde es niemals schaffen.

Die Zeit verging, und als der Schilderputzer alle wichtigen Bücher studiert hatte, da war er beinah schon alt. Er hegte und pflegte die Schilder wie eh und je, liebkoste ab und zu mit den Fingerspitzen die Namen, die ihm so ans Herz gewachsen waren, und hielt sich selbst während der Arbeit Vorträge über Musik und Literatur.

Dann, eines Tages, blieb eine Familie bei der blauen Leiter stehen und hörte zu. Zwei Mädchen unterbrachen ihre Unterhaltung und starrten zu ihm hinauf. Ein junger Mann setzte seine Tasche ab und lauschte. Eine Schulklasse mit ihrem Lehrer gesellte sich dazu. Andere beobachteten den Menschenauflauf und stellten sich hinten an.

Der Schilderputzer bemerkte davon nichts. Als er mit dem Schild fertig war und, immer noch redend, die blaue Leiter hinabstieg, klatschten die Leute. Der Schilderputzer errötete. Rasch packte er seine Sachen zusammen und schob das blaue Fahrrad zum nächsten Schild.

Die Leute folgten ihm. Das war dem Schilderputzer gar nicht recht, doch was sollte er machen? Er konnte es ihnen schlecht verbieten. Also tat er weiter seine Arbeit und hielt weiter seinen Vortrag. Dabei bemühte er sich, nicht nach unten zu sehen.

Die Stunden krochen durch den Tag. Als die Kirchturmuhr am Wilhelm-Busch-Platz endlich fünf zeigte, schwang sich der Schilderputzer erleichtert aufs Fahrrad und machte sich davon. Die Leute winkten ihm nach.

Am nächsten Morgen erwarteten sie ihn schon an der Bachstraße. Der Schilderputzer bekam einen heftigen Schluckauf. Er hielt den Atem an, zählte langsam bis zehn, baute die blaue Leiter unter dem ersten Schild auf, begann mit dem Putzen und mit dem neuen Vortrag.

Die Leute blieben ihm auf den Fersen. Als der Schilderputzer das letzte Schild gesäubert hatte und die letzten Worte verklungen waren, lief ein beifälliges Murmeln durch die Reihen. Unsicher flüchtete er, und die Zuhörer zerstreuten sich.

Der Schilderputzer, der begriffen hatte, dass er von jetzt an mit Publikum rechnen musste, bereitete seine Auftritte nun gründlich vor. Er wollte sich nicht blamieren.

Immer mehr Menschen besuchten seine Vorträge, immer dichter umdrängten sie die blaue Leiter. Der Schilderputzer gewöhnte sich allmählich daran. Er zog von Schild zu Schild, kletterte die Leiter hinauf und wieder hinunter und ließ sich von dem Trubel nicht stören.

Eines Tages befanden sich in der Menge ein Kameramann und ein Reporter der Fernsehsendung LEUTE WIE DU UND ICH. Sie filmten den Schilderputzer bei der Arbeit, befragten ihn, und er wurde über Nacht berühmt.

Nun ging alles drunter und drüber. Autogrammjäger belagerten ihn auf Schritt und Tritt. Säcke voller Post wurden ihm ins Haus gebracht. Und der Oberschilderputzer und der Schilderputzmeister überreichten ihm mit salbungsvollen Worten einen Blumenstrauß. Durch ihn war nämlich das Ansehen der Schilderputzzentrale gewaltig gestiegen.

Vier Universitäten forderten den Schilderputzer auf, Vorträge vor den Studenten zu halten. Er hätte eine märchenhafte Karriere machen können.

Der Schilderputzer entschied sich dagegen. "Ich bin ein einfacher Mann", schrieb er zurück, "und tu den lieben langen Tag nichts anderes, als Schilder abzuwischen. Die Vorträge halte ich einzig und allein zu meinem Vergnügen. Ich will kein Professor sein. Meine Arbeit würde mir fehlen. Hochachtungsvoll."
Und so blieb er, was er war. Ein Schilderputzer.

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